Liebe Freunde, liebe Interessierte, liebe Beobachter,

seit ich an der Uni aufgehört habe, fängt es an, immer spannender zu werden. Vor zwei Wochen war ich in Österreich, unter anderem auch in einer ziemlich abgelegenen Region an der Grenze zu Ungarn und Slowenien. Sie heißt Vulkanland und ihr Zentrum ist Feldbach. So eine Aufbruchstimmung wie dort habe ich bisher nicht für möglich gehalten. Die Leute wollen wirklich diese ganze Gegend zu einer Modellregion für eine neue Art des Miteinander und der Potentialentfaltung machen. In Feldbach gibt es, glaube ich, nur dreizehzehntausend Einwohner.

Zu meinem Vortrag waren zweitausendfünfhundert in die Stadthalle und zwei weitere Übertragungssäle gekommen. So etwas habe ich bisher noch nie erlebt. Aber es bestätigt meine Vermutung, dass sich die entscheidenden Veränderungen und Transformationsprozesse nicht im Zentrum, sondern an den Rändern der Gesellschaft vollziehen. Nicht dort, wo alle hinschauen und wo alle erwarten, dass endlich etwas passiert, kommt das Neue in die Welt, sondern möglicherweise eben ausgerechnet dort, wo niemand damit rechnet, wo fast spielerisch aus dem Alten etwas Neues entstehen kann, weil es dort weniger hektisch und weniger aufgeregt zugeht. Wo das, was da ist und sich bewährt hat, auf eine innovative Weise neu miteinander verbunden werden kann.

Vorher war ich in Wien in einer ganz normalen staatlichen Grundschule in einem ziemlich heruntergekommenen Gebäude aus der Gründerzeit. Die war auch irgendwie aus dem Blick der schulischen Entwicklungsprogramme geraten und an den Rand geraten. Sie sah fast noch so aus wie die Schule, die ich vor einem halben Jahrhundert besucht habe. Aber was dort drinnen geschah und wie die Schüler dort gelernt haben, hat mir dann doch fast die Sprache verschlagen. Alles, was es an guten Ansätzen und Methoden aus den unterschiedlichsten Richtungen der Reformschulbewegung gibt, hatte das Lehrerteam integriert.
Die Schüler erarbeiteten sich den Stoff in Lerngruppen, meist auf dem Fußboden der Klassenräume und draußen auf den Gängen. Selten habe ich so eine hochkonzentrierte und gleichzeitig lustvolle Lernatmosphäre erlebt. Die Schüler waren die Gestalter ihres eigenen Lernprozesses und die Lehrer agierten als kompetente Begleiter und Unterstützer dieser Lerngruppen. Jede Gruppe hatten ein Tablet, an den Wänden hatten die Lehrer Zettel mit ausgedruckten QR-Codes aufgehängt, die wurden von den Schülern in die Tablets eingelesen und führten auf Websites, wo das für ihre jeweiligen Fragestellungen relevante Material zu finden war. Sie erstellten daraus ein Plakat, das sie später nutzten, um den den anderen Gruppen die Ergebnisse ihrer Arbeit und ihre daraus gewonnenen Erkenntnisse vorzustellen.
Was für eine Schule und was für ein innovatives Konzept – und das alles war in einer völlig unspektakulären, unbekannten und unbeachteten Schule entstanden. Genau wie in dieser Vulkanregion, genau dort, wo nicht alle hinschauen und wo niemand die großen Innovativen erwartet.

Und was für regionale und schulische Entwicklungen gilt, trifft in ähnlicher Weise auch für Unternehmen zu. Zusammen mit Sebastian Purps-Pardigol habe ich ja die Website kulturwandel.org aufgebaut, auf der wir Unternehmen vorstellen, die es irgendwie geschafft haben, eine zukunftsweisende Führungskultur und eine Kultur des Miteinander zu entwickeln und die auf diese Weise äußerst erfolgreiche Unternehmen geworden sind.
Auch diese innovativen Entwicklungen haben sich nicht in den im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Großkonzerne vollzogen, sondern in meist inhabergeführte Unternehmen, die als bis dahin kaum beachtete Mittelständler ihren eigenen Weg gesucht und gefunden haben. Wir haben nun die Webseite erweitert und laden Unternehmen ein, Ihre Erfahrungen mit einem begonnenen oder vollendeten Wandel zu beschreiben und zu teilen. Ihre Geschichten können andere Unternehmen inspirieren und ermutigen, auch bei sich zu beginnen.


Für mich sind das alles sehr ermutigende Beispiele, die deutlich machen, dass der anstehende Transformationsprozess unserer Gesellschaft nicht nur längst begonnen hat, sondern dass er in manchen Bereichen sogar schon ziemlich weit vorangekommen ist. Er verläuft nur anders als wir uns das bisher vorgestellt haben und wir können ihn auch nur erkennen, indem wir ihn anders als bisher betrachten. Den Blick dafür zu schärfen und die grundlegenden Prinzipien dieses Prozesses herauszuarbeiten, ist das Anliegen der Akademie für Potentialentfaltung.
Nach anderthalb Jahren Aufbauarbeit gewinnt sie nun zunehmend an Profil. Sie ist das, warum ich mich vorrangig kümmere. Deshalb fahre ich meine Vortragstätigkeit deutlich zurück und muss leider sehr viele Anfragen absagen. Auch die versprochene Vervollständigung meiner Homepage, in die ich meine Veröffentlichungen thematisch geordnet einstellen wollte, ist deshalb bisher nicht so vorangekommen, wie geplant. Alle, die sich dafür interessieren und darauf warten, bitte ich um Nachsicht und noch etwas Geduld.

Es gibt zwei Themenbereiche, die ich gegenwärtig sehr intensiv bearbeite und die so spannend sind, dass daraus wohl zwei Bücher werden:

1. Das eine Thema ist die Demenz und die Frage, weshalb es Personen gibt, deren Gehirn genauso degeneriert und durch Abbauprozesse geschädigt ist wie das von Demenzpatienten, die aber bis ins hohe Alter keine Symptome einer Demenz entwickeln.

2. Das andere Thema ist das, was wir als unsere Würde bezeichnen. Hier interessiert mich, was das eigentlich ist, wie sie entsteht und weshalb wir so vieles zu tun bereit sind, obwohl es unsere Würde zutiefst verletzt. Wieso wird soviel davon geredet, in Würde zu sterben, wo es doch viel wichtiger wäre, unter Wahrung seiner Würde zu leben?


Mit dieser Frage höre ich jetzt auf. Ich bedanke mich bei allen, die mir immer wieder Mut machen und freue mich, wenn es mir bisweilen gelingt, auch Ihnen und Euch etwas Mut zu machen, sich auf den Zauber des Lebens – gerade jetzt im Frühling – einzulassen.

Mit einem herzlichen Gruß in die Runde,

Gerald Hüther