Liebe Freunde, Mitstreiter oder einfach nur Interessenten an dem, was mich interessiert, man braucht keinen Maja-Kalender um zu begreifen, dass ein Zeitalter zu Ende geht. 2012 steht vor der Tür. Die Welt wird nicht untergehen, höchstens die Vorstellungen mancher Zeitgenossen, worauf es im Leben ankommt. In einer Welt begrenzter Ressourcen werden sie wohl von der Idee Abschied nehmen müssen, dass man ewig weiter wachsen kann. Sie werden verstehen lernen, dass es neben dem quantitativen noch ein anderes, ein qualitatives Wachstum gibt. Unser Gehirn macht uns vor, wie das geht: Nicht indem es so lange weiter wächst, bis uns die Schädeldecke zerplatzt, sondern indem es seine Konnektivität, also die Beziehungen zwischen den Nervenzellen intensiviert. Wer im Hirn besser vernetzt ist, der findet sich auch im Leben besser zurecht, der muss nicht immer wieder versuchen, die Probleme, die er mit seinen alten Denkweisen geschaffen hat, mit genau den Denkweisen zu lösen, die ihn in diese Sackgasse geführt haben. Das ist engstirnig. Um das zu erkennen, muss man kein Hirnforscher sein.

Wie kann es gehen?

Aber wie kann es uns gelingen, die Intensität unserer Beziehungen in Zukunft etwas günstiger für unser Zusammenleben zu gestalten als bisher? Das ist die zentrale Frage, die mich im letzten Jahr umgetrieben hat. Dabei ist mir einiges aufgefallen, was ich bisher so nicht betrachtet hatte. Das meiste davon habe ich in dem Buch „Was wir sind und was wir sein könnten“ aufgeschrieben: dass es um das Gelingen geht, nicht um` s Funktionieren und dass es die am eigenen Leib gemachten Erfahrungen und die daraus herausgeformten und im Frontalhirn verankerten Haltungen, Überzeugungen und inneren Einstellungen sind, und nicht die auswendig gelernten oder von anderen übernommenen Wissensinhalte, die darüber bestimmen, was wir im Leben wichtig finden, wofür wir uns interessieren, wie wir das, was wir erleben. bewerten und - nicht zuletzt -, was uns begeistert und wie sich unser Gehirn deshalb strukturiert.
Das Gehirn wird so, wie und wofür man es mit Freude und Begeisterung benutzt. Das ist die wohl wichtigste Erkenntnis, die die Hirnforscher in dem letzten Jahrhundert zutage gefördert haben.
Statt uns gegenseitig ständig mit Abwertungen und Hinweisen, was alles nicht geht zu entgeistern, müssten wir also versuchen einander einzuladen, zu ermutigen und zu begeistern, immer wieder neue, günstigere Erfahrungen mit uns selbst, mit anderen Menschen und mit all dem, was uns umgibt, zu machen.

Eine neue Beziehungskultur

Was wir also brauchen, ist eine andere, eine für uns alle günstigere Beziehungskultur. Aber die fällt nicht vom Himmel. Die können wir nur selbst entwickeln, indem wir anders als bisher miteinander in Beziehung treten, liebevoller, freundlicher, einander unterstützender. Das geht. Man muss es nur machen, man kann es zumindest versuchen.

Dazu müssten wir allerdings aufhören, einander ständig zu bewerten. Denn was bei all diesen Bewertungen, die wir in der Beziehung zu anderen Menschen vornehmen, herauskommt, lässt sich gegenwärtig in allen Bereichen unserer Gesellschaft beobachten: in der Erziehung unserer Kinder, in der Schule, im Berufsleben und in Altersheimen.
Besonders ungünstig wird es immer dann, wenn sich bestimmte Bewertungskriterien als ungünstig herausstellen, um das zu erreichen und auszuwählen, worauf es wirklich ankommt. Am schlimmsten ist das sicher in der Schule.

Es gibt eine beängstigend rasch wachsende Zahl von – in Bezug auf Schulzensuren, Prüfungen und Abschlüsse besonders vielversprechenden jungen Leuten, die unser gegenwärtiges Schulsystem mit seinen Selektionskriterien als Spitzenreiter hervorbringt. Viele dieser „High Performers“ erweisen sich jedoch später als ungeeignet, die an sie gestellten Anforderungen im Beruf zu bewältigen. Sie haben zwar gelernt, sich höchst effektiv und in kürzester Zeit all das anzueignen, was in Schulen und Universitäten von ihnen verlangt wird. Aber sie haben nicht gelernt, komplexe Probleme zu meistern, mit Unsicherheiten und Risiken umzugehen. Sie waren immer nur erfolgreich, mussten sich selbst nie in Frage stellen, sind nie richtig gescheitert und wissen daher auch nicht, wie sie mit Misserfolgen umgehen sollen. Sie haben nicht gelernt in Teams zu arbeiten und sind nicht in der Lage, ihre Mitarbeiter zu Höchstleistungen anzuspornen. Sie sind perfekt an ein Leistungssystem angepasst, in dem klar vorgegeben wird, was zu tun ist, aber ihnen fehlt der für eine Führungskraft erforderliche Eigensinn, die Bereitschaft, neue Weg zu gehen und neue Lösungen zu suchen. Sie sind also keine Spitzenkräfte, sondern nur perfekte Pflichterfüller geworden. Aber brave Pflichterfüller und Auswendiglerner werden in unserer heutigen Zeit eben nicht mehr gebraucht. Eigensinn, Kreativität, Querdenkertum und soziale Kompetenz sind diejenigen Fähigkeiten, auf die es heute in viel stärkerem Maß als im vorigen Jahrhundert ankommt. All das kann man aber nicht auswendig lernen und auch nicht unterrichten oder durch Leistungskontrollen messen. Auf die Herausbildung all dieser besonderen Fähigkeiten sind unsere Schulen nicht vorbereitet. Darauf kam es in der Lebens- und Berufswelt des vorigen Jahrhunderts nicht so sehr an.

Wir haben also ein Problem, das es in dieser Weise bisher noch nicht gab: Unser Bildungssystem klappt nicht nur „unten“ nicht, es leistet inzwischen auch „oben“ nicht mehr das, was es leisten müsste. Manche verantwortlichen Bildungsplaner beginnen das zu ahnen, Wirtschaftsführer sind besorgt und immer mehr Politiker spüren, dass es nicht so weitergehen kann. Aber auch sie haben keine Ideen, wie ein neuer Wind in unsere Schulen, Ausbildungseinrichtungen und Universitäten zu bringen wäre. Mehr vom Alten hilft nicht mehr. Im Gegenteil. Es macht die Misere nur noch schlimmer. Aus exzellenten Abiturnoten lässt sich eben lediglich ableiten, dass der betreffende Schüler gelernt hat, wie man gute Noten bekommt. Ein guter Arzt muss aber über weitaus anspruchsvollere Fähigkeiten verfügen, als nur in möglichst kurzer Zeit möglichst viel auswendig lernen und in Prüfungssituationen wiedergeben zu können.

Zeit des Wandels

Es gehört nicht all zuviel Fantasie dazu, um vorherzusagen, dass es so wie bisher nicht mehr lange weitergehen kann. Nicht nur in unseren Bildungseinrichtungen, auch in unseren Krankenhäusern, Altersheimen und nicht zuletzt auch in Unternehmen und Organisationen. Aber in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus werden wohl zuallererst die Schulen, jedenfalls diejenigen, die noch immer glauben, die besten zu sein und mit ihren Anforderungsprofilen Spitzenkräfte für unsere zukünftige Entwicklung hervorzubringen. Ich bin gespannt, wie lange es noch dauern wird, bis eine zivilgesellschaftliche Bewegung entsteht, die hier endlich andere Bewertungskriterien einfordert.
Als Präsident der Sinn-Stiftung bemühe ich mich darum, hier eine Plattform für ein solches Engagement zu schaffen. Unter dem Dach dieser Stiftung sollen wegweisende Modellprojekte vorgestellt werden, die zeigen, dass es anders geht und wie es anders gehen könnte. Das soll im Neuen Jahr auch auf unserer Homepage sichtbar werden. Wir sind dabei, sie entsprechend umzugestalten. Für Ideen, Vorschläge, Hinweise und für Angebote konkreten persönlichen Engagements sind wir dabei dankbar.
Es geht wesentlich mehr, als man glaubt. Und es geht um so besser, je mehr Leute sich daran beteiligen, diesen schwierigen Transformationsprozess von einer Kultur der immer besseren Ausnutzung vorhandener Ressourcen zu einer Kultur der Entfaltung der in uns allen, in jedem einzelnen angelegten Potenziale voranzubringen.
Um mehr Zitronensaft zu gewinnen, reicht es eben nicht, immer bessere und immer effektivere Zitronenpressen zu entwickeln. Man müsste stattdessen versuchen, viele kleine Zitronenbäumchen zu pflanzen und groß zu ziehen. Das fällt vor allem all jenen besonders schwer, die ihr ganzes bisheriges Leben mit Versuchen des besseren und effektiveren Auspressens von Zitronen verbracht haben. Aber die Zeit ist reif für all jene, die auch schon bisher anders unterwegs waren.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein besinnliches Weihnachtsfest und einen mutigen, zuversichtlichen Start ins Neue Jahr.

Gerald Hüther




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