„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“ so lautet meine Lieblingszeile aus einem Gedicht von Hermann Hesse.
Herzlich Willkommen im Neuen Jahr! Ich wünsche Ihnen, dass es für Sie nicht nur zauberhaft begonnen hat, sondern dass es diesen Zauber auch nicht so schnell verliert. Und dafür kann man ja durchaus etwas tun. Damit meine ich nicht, dass es uns gelingt, alle Schwierigkeiten und Probleme zu lösen, die das Leben für uns bereithält. Aber hier und da geht es schon, wenn man es ernsthaft versucht. Und Manches, was uns ganz und gar verfahren und unlösbar vorkommt, verliert ja auch tatsächlich ganz schnell seine Bedrohlichkeit, wenn es einem gelingt, es mit anderen Augen, mit anderen Erwartungen, aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Das ist manchmal nicht so einfach, wie es klingt, aber versuchen können Sie es ja einmal. Und wenn Ihnen dann jemand sagt, Sie würden die Dinge nicht richtig sehen, dann antworten Sie einfach: „Ich leide nicht an Realitätsverlust, ich genieße ihn!“ Die Realität all dieser selbsternannten Realisten besteht darin, dass sie von dem Zauber eines Neubeginns keine Ahnung haben und dass Sie deshalb lieber so weitermachen wie bisher.

Menschen, denen bisher im Leben nur wenig gelungen ist, empfinden jede Veränderung allzuleicht als Bedrohung. Sie glauben nicht daran, dass es auch anders geht, dass es sogar viel besser gehen könnte, wenn Sie nicht immer wieder auf die gleiche Weise und mit denselben Argumenten auf alles reagierten, was Ihnen im Leben begegnet. Deshalb bleiben Sie lieber so, wie Sie sind und suchen nach Argumenten, die Sie in ihrer Überzeugung bestärken, dass sich an den Realitäten nichts ändern lässt. Weil Sie keinen Neubeginn wagen, können Sie auch den Zauber nicht, der in jedem Anfang steckt.

Vor allem für diese Menschen habe ich jetzt ein Buch geschrieben, das im Frühjahr im Fischer-Verlag erscheinen wird. Es heißt:
„Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher“.

Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher
Hier als kleine Vorab-Kostprobe der letzte Abschnitt:

„Ich versuche gerade herauszufinden, welcher Tag eigentlich der alltäglichste Tag war, den ich in meinem Leben bisher erlebt habe. Er will mir nicht einfallen. Der zweit- und drittalltäglichste auch nicht. Offenbar leide ich schon an altersbedingtem Gedächtnisschwund, einer senilen Demenz für das Alltägliche. Was für ein Geschenk des Himmels oder meinetwegen auch meines Hirns ! Das ist die schönste Krankheit, die ich mir vorstellen kann: sich einfach an all das nicht mehr erinnern zu können, was ganz unwichtig, ganz bedeutungslos, eben ganz alltäglich ist. Diese senile Demenz für das Alltägliche plagt mich offenbar schon länger. Am stärksten war ich davon befallen, als ich noch ein kleiner Junge war.
Seither ist es – dank der eifrigen Bemühungen von allen möglichen Wichtigtuern und nicht zuletzt der Medien - damit etwas besser geworden. Jetzt kann ich mich sogar noch einigermaßen an die letzte Sitzungsrunde des Vorbereitungskommitees zur Durchführung der Wahlen zum Betriebsrat erinnern. Der Redner sagte gerade zum siebten Mal: „Jetzt müssen wir also ...“ Ich dachte noch: „So oft kann man doch in anderthalb Stunden gar nicht müssen. Oder glaubt der, wir hätten es alle an der Prostata?“

Damals, als ich Fünf war, wäre mir das nie aufgefallen, es wäre mir auch egal gewesen, ich wäre einfach aufgestanden und rausgegangen. Damals hätte ich mich auch an rein gar nichts von dieser Sitzung erinnern können. Aber das hatte ich ja schon mit Bedauern festgestellt: Die Demenz für das Alltägliche verschwindet allmählich, je älter man wird. Deshalb braucht man für diese Erkrankung auch keine Pillen zu nehmen, jedenfalls nicht mehr in meinem Alter.

Wenn ich heute aber erst fünf Jahre alt wäre, hätte ich sicher Ritalin bekommen, denn ich hätte den Alltag in der Schule nicht ausgehalten, ohne ihn durch irgendeine verrückte Aktion zu einem besonderen Tag zu machen, ein Tag an den ich mich auch später noch hätte erinnern können ...“


Aus: „Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher“, erscheint im Frühjahr im Fischer Verlag.

Ein Neues Jahr mit vielen ganz besonderen Tagen wünsche ich allen, die sich noch an mich erinnern können ...

Und herzlichen Dank, an alle, die mich unterstützt und mir geholfen haben, die den Faden aufgenommen und ihn weitergesponnen haben, die andere eingeladen, ermutigt und inspiriert haben. Wir machen weiter, ich freu mich drauf,

Gerald Hüther




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