Liebe(r)Leser/in

Gerade komme ich zurück von einer Veranstaltung in Hamburg. "Neurobiologie meets Nächstenliebe", in der Kulturkirche Altona. Ich habe wieder einmal versucht zu erklären, weshalb das Zeitalter der Einzelkämpfer, der Konkurrenz und des voneinander Abgrenzen vorbei ist, wie gut es für die Vernetzungen im Hirn wäre, wenn wir miteinander besser verbunden wären. Wenn wir aufhören könnten, aneinander zu leiden und uns als Opfer der Verhältnisse zu erleben, die wir doch nicht selbst erst geschaffen haben. Wenn wir stattdessen versuchten, einander wieder näher zu kommen und uns für uns alle günstigere Beziehungskultur, eine einander unterstützende Art des Umgangs miteinander entwickeln.

Und wie immer, wären auch diesmal nach meinem Vortrag die üblichen Bedenken und all diese "ja, aber" Kommentare gekommen, wenn nicht Schwester Karoline mit auf der Bühne gestanden hätte. Eine kleine Frau, stark wie ein Baum, längst im Rentenalter aber immer noch unterwegs in den Armutsvierteln, in den finstersten Slums südamerikanischer Großstädte.

Eine Frau, die selbst unter der Diktatur von Pinochet immer wieder Mittel und Wege gefunden hatte, um anderen Menschen Mut zu machen und ihnen zu helfen. Als sie von ihrer Arbeit in den Armutsvierteln berichtete, wurde es sehr still in dieser Kirche. Nicht weil Schwester Karoline so vielen Menschen geholfen und ihnen in scheinbar ausweglosen Situationen beigestanden hatte, sondern vor allem deshalb, weil sie selbst so glücklich darüber war, dass sie für die Menschen da sein konnte. Das war es, was die Besucher dieser Veranstaltung spürten und was sie so sehr berührte. Dieses Gefühl lässt sich nicht wecken, indem man anderen erklärt, dass es gut fürs Hirn wäre, wenn man anfänge so zu leben.


Worum geht es?

Es geht eben nicht um mehr Wissen, sondern es geht um die Schaffung von Gelegenheiten, neue Erfahrungen zu machen. Erfahrungen, die uns wieder stärker mit uns selbst verbinden und aus denen wir die Kraft schöpfen, uns anderen Menschen zuzuwenden, sie einzuladen, sie zu ermutigen und sie zu inspirieren, sich noch einmal ein wenig mehr auf all das einzulassen, was es in ihnen selbst, in den Anderen und in ihrer jeweiligen Lebenswelt alles zu entdecken und zu gestalten gibt. Wenn das gelingt, verändern Menschen auch ihre bisherigen Haltungen und inneren Einstellungen.
Nicht durch Druck, nicht durch Belehrungen, nicht durch Belohnungen oder Bestrafungen und auch nicht durch gut gemeinte, mehr oder weniger kluge Ratschläge, sondern nur durch am eigenen Leib gemachte, also unter die Haut gehende neue Erfahrungen.

Damit Menschen bereit sind, sich auf solche neuen Erfahrungen einzulassen, brauchen sie eine Ahnung davon, wie es sein könnte und ein bisschen Mut, den ersten Schritt in eine solche Richtung zu wagen. Der Rest passiert dann meist von ganz allein. Das gilt für Eltern, wenn sie wieder anfangen, der angeborenen Lernlust und Entdeckerfreude ihrer Kinder zu vertrauen. Das gilt für ErzieherInnen und LehrerInnen, wenn sie sich sinnlosen Vorgaben irgendwelcher Schulbehörden zu widersetzen beginnen. Und das gilt für all das, was wir gegenwärtig in Familien, mit Nachbarn, in Schulen und Universitäten und an der Arbeit in Betrieben und Organisationen erleben. Überall kann man diesen kleinen Schritt hin zu einer etwas anderen, einer etwas vertrauensvolleren oder sogar einer etwas liebevolleren Beziehungskultur wagen.

Kürzlich habe ich bei einer Expertenanhörung im Bundestag gewagt, den Abgeordneten zu sagen, dass die Zunahme an ADS-Diagnosen und Ritalinverschreibungen wohl weniger etwas mit den Kindern, sondern mit der in unseren Schulen herrschenden Lern- und Beziehungskultur zu tun hat. Es war interessant zu spüren, dass die Abgeordneten das offenbar auch schon geahnt hatten. Sie waren betroffen und genau das ist der Anfang jeder Veränderung.

Die Situationen an unseren Schulen wird sich aber wohl auch ohne die Mithilfe dieser Abgeordneten schneller ändern, als wir uns das gegenwärtig vorzustellen imstande sind. Die Wende in der ehemaligen DDR oder die Bürgerbewegung in Nordafrika hat ja auch niemand vorhergesehen. Die alten Strukturen waren einfach zu starr geworden und die Menschen, die darunter zu leiden hatten, haben einfach damit begonnen, sich zusammenzuschließen, sich zu verbinden. Und wenn Menschen beginnen, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, gibt es nichts, was dann nicht auch gemeinsam überwunden werden kann.

"Connectedness. Die neue Wissenschaft von der Verbundenheit" heißt deshalb auch der Sammelband, den ich mit Christa Spannbauer zusammengestellt habe und der kürzlich im Huber Verlag erschienen ist. Hier machen Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Disziplinen deutlich, dass es an der Zeit ist, uns von diesem alten Weltbild zu lösen, das uns vorgaukelte, wir könnten die Welt, in der wir leben, dadurch verstehen, dass wir sie in ihre Einzelteile zerlegen. Hier können Sie etwas in das Buch hinein lesen.


Drei wichtige Initiativen

Alles, was existiert, ist das Ergebnis von Beziehungen. Und je komplexer die Beziehungen gestaltet werden, um so faszinierender ist das, was dabei herauskommt. Das gilt für unser Gehirn ebenso wie für unser Zusammenleben. Nicht nur in der Familie, auch in Bildungseinrichtungen und nicht zuletzt auch in Unternehmen und Organisationen.

Kulturwandel in Unternehmen und Organisationen heißt deshalb auch eine Initiative, die es seit letztem Sommer bereits gibt und die wir in den vergangenen Monaten neu durchdacht und überarbeitet haben. Das Ziel unserer Arbeit ist es, Wege und Möglichkeiten für eine andere, eine günstigere Beziehungskultur in Unternehmen aufzuzeigen und dadurch die zu inspirieren, die das möglich machen können.
Dass das nicht immer nur durch Unternehmenschefs geschehen muss, sondern jeder Einzelne sich einbringen kann, lesen Sie beispielhaft an dem Projekt "Bottom-Up".
Das Ergebnis unserer Bemühungen können Sie sich hier ansehen: www.kulturwandel.org

In der Initiative Schulen der Zukunft geht es um den Aufbau einer günstigeren Lern- und Beziehungskultur an Schulen damit Kinder und Jugendliche ihre Potentiale weiterhin entfalten können. (www.schulen-der-zukunft.org)
In dieser Initiative zeigen wir Schulen, die so eine Kultur der Potentialentfaltung leben und stellen Projekte vor, die auch ausserhalb von Schulen potentialentfaltende Bildung fördern. Interessierten Schulen, die diesen Weg beginnen wollen, vermittelt die Initiative die passenden Partner.

Und ein Thema, das mir ganz besonders am Herzen liegt, sind die Beziehungen zwischen Jungen und ihren Vätern bzw., wenn die nicht da sind, zu männlichen Vorbildern, die ihnen Orientierung dabei bieten, zu authentischen, verantwortungsbewussten und liebevollen Männern heranzureifen. Diese Initiative wird zur Zeit aufgebaut und soll nach der Sommerpause starten. Wir suchen im Moment noch nach weiteren Unterstützern und guten Projekten. Wenn Sie sich einbringen möchten, melden Sie sich gerne unter info@maennerfuermorgen.com

Manchmal frage ich mich selbst, wie ich es schaffe, all diese unterschiedlichen Vorhaben voranzubringen. Die Antwort ist ganz einfach: das bin gar nicht ich, sondern das sind ganz viele, sehr engagierte Menschen, die hier ihre Erfahrungen, ihre Fähigkeiten und ihr Wissen einbringen und sich gemeinsam auf den Weg machen. Und das Geheimnis, das dazu führt, dass es klappt und am Ende auch wirklich etwas entstehen kann, was seine Wirkung entfaltet ist ganz einfach: es sind Menschen, die miteinander in Beziehung sind, die einander einladen, ermutigen und inspirieren und die fest davon überzeugt sind, dass es geht, dass sich die Art unseres bisherigen Zusammenlebens verändern, günstiger gestalten lässt.

Herzlichst

Ihr Gerald Hüther