Vorwort zu Frau Wolle „Königin Herzenslust“
Weshalb wir Märchen brauchen, die unser Herz berühren
Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Zaubermittel, das Sie zur Ruhe kommen und achtsam werden lässt, das Ihnen hilft, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Sie in ihrem Inneren berührt und stärkt, also ihre Resilienz verbessert. Ein Zaubermittel, das gleichzeitig Ihre Fantasie beflügelt, das es Ihnen leicht macht, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Gefühle zu teilen und das auch noch Ihr Vertrauen stärkt und Sie mit Mut und Zuversicht in die Zukunft blicken läßt. Dieses Superdoping für ihr Gehirn gibt es. Sie können es ihren Kindern schenken, Ihren Freunden und Bekannten, die allzu oft genauso gestresst herumrennen wie Sie. Es ist ein wunderbares Geschenk für Ihre Eltern, auch wenn die schon sehr alt und vielleicht ein wenig vergesslich geworden sind. Und von allen, an die Sie es verschenken, bekommen Sie sogar noch etwas zurück geschenkt, das genauso zauberhaft ist: Zuversicht, Vertrauen, Dankbarkeit und ein Strahlen in ihren Augen. Dieses unbezahlbare Zaubermittel sind die Märchen, die von mutiger Befreiung und bedingungsloser Liebe erzählen, also genau dem, wonach sich alle Menschen sehen.
Als ich vor einiger Zeit Frau Wolle’s „König Lichterloh“ las, wurde mir plötzlich klar, dass diese Märchen genau der Schlüssel waren, nach dem ich als Neurobiologe oder „Gehirnforscher“, wie ich bisweilen genannt werde, so lange gesucht hatte. Ich wollte herausfinden, was den Menschen hilft, ihr Leben und ihr Zusammenleben – auch das mit anderen Lebewesen – so zu gestalten, dass unser wunderbarer blauer Planet mit seiner atemberaubenden Vielfalt an Lebensformen auch für unsere Kinder und Kindeskinder eine märchenhaft lebendige Insel in den toten Weiten des Weltalls bleibt. Dass das, was wir für ein menschliches Leben brauchen, endlich nicht mehr weiter von uns zugrunde gerichtet wird.
Deshalb habe ich Frau Wolle gebeten, dieses Vorwort für ihr neues Märchenbuch „Königin Herzenslust“ schreiben zu dürfen. Danke, liebe Frau Wolle, dass Sie mir das erlaubt haben.
Spätestens seit der Aufklärung hat sich die Vorstellung durchgesetzt, wir Menschen seien mit Hilfe unseres nackten Verstandes in der Lage, alle Probleme auf dieser Welt lösen zu können. Deshalb versuchen wir schon unseren Kindern alles beizubringen, was wir für die Herausbildung ihrer kognitiven Fähigkeiten für wichtig halten und wir selbst bemühen uns, möglichst rational zu handeln und uns möglichst gut über alles zu informieren. Erst sehr allmählich beginnen wir zu bemerken, dass Menschen ihren Verstand und ihre kognitiven Fähigkeiten auch sehr erfolgreich einsetzen können, um ihre eigenen Interessen auf kosten anderer durchzusetzen. Mafiabosse, Kriegstreiber, Investmentbanker und viele andere „Macher“ verfügen über exzellente kognitive Fähigkeiten, sonst wären sie nicht so weit gekommen. Und Informationen gibt es inzwischen so reichlich, dass wir angesichts der über uns hereingebrochenen Informationsflut nicht mehr wissen, was wirklich wichtig ist und was wir schnell wieder vergessen können.
Schon im Maschinenzeitalter haben wir der Versuchung nicht widerstehen können, uns selbst aus lauter Begeisterung mit den von uns gebauten Dampfmaschinen, Autos und sonstigen Geräten zu verwechseln. Viele sind noch heute der Meinung, ihr Körper funktioniere wie eine Maschine und es sei ganz normal, dass es dabei zu Abnutzungsschäden komme, die dann repariert werden müssten. Inzwischen sind wir im Zeitalter der Digitalisierung angekommen und die ersten beginnen nun auch, sich mit diesen digitalen Geräten zu verwechseln. Menschen sind aber keine Maschinen. Sie haben Bedürfnisse, und die müssen sie stillen um lebendig zu bleiben. Roboter und Automaten haben keinen Durst und keinen Hunger, auch kein Bedürfnis, gewartet und gepflegt zu werden oder irgendetwas zu leisten. Wir können sie benutzen, um bestimmte Tätigkeiten auszuführen oder Leistungen für uns zu erbringen. Solange wir die dafür erforderliche Energie zuführen, machen sie das, wofür wir sie gebaut und programmiert haben. Sobald wir diese Energiezufuhr abstellen, verspürt auch der „intelligenteste“ und „lernfähigste“ Rechner keinen inneren Impuls, die unterbrochene Stromzufuhr wiederherzustellen. Weil er kein Bedürfnis hat, seine Energiezufuhr selbst sicherzustellen, kann er auch nicht lernen, wie das geht.
Und weshalb lassen wir zu, dass unsere Kinder sich mithilfe dieser digitalen Geräte in virtuellen Welten verlieren, bis sie ihr Smartphone als ein zu ihnen gehörendes eigenes Körperteil betrachten und ihr reales Leben mit der von diesen digitalen Maschinen erzeugten virtuellen Welt verwechseln? Sicher nicht, weil wir nicht hinreichend gut über die Folgen der Nutzung digitaler Geräte vor allem bei Kindern und Jugendlichen informiert sind. Zu viele Menschen haben offenbar kein Gespür mehr dafür, was unsere Kinder und auch Erwachsene wirklich brauchen. Wir fühlen uns nicht mehr mit anderen Lebewesen, auch nicht mit anderen Menschen und offenbar auch nur noch unzureichend mit unseren Kindern, ja oft noch nicht einmal mehr mit den lebendigen Anteilen in uns selbst verbunden. Deshalb behandeln wir uns selbst, behandeln wir andere Menschen und andere Lebewesen so, als seien sie Objekte.
Wir müssten wieder Gelegenheit bekommen, uns mit unseren lebendigen Anteilen, mit unseren wahrhaftigen inneren Bedürfnissen zu verbinden, mit denen wir ja alle einmal auf die Welt gekommen sind. Wenn wir wieder mit dieser eigenen Lebendigkeit in Kontakt kommen, geschieht etwas in unserm Inneren. Wir erleben eine Innere Berührung. Das schafft man nicht durch Belehrungen und Unterricht, das kann man auch nicht übern und trainieren. Das sind Sternstunden, und die erleben wir bisweilen beim Lesen eines Märchens, das von Mut und Lust und Liebe handelt.
Wenn Sie so ein Märchen lesen, werden nicht nur die Erinnerungen daran wieder wach, wie es damals war, als Sie noch ein Kind waren, dem diese Märchen vorgelesen wurden. Dann wird auch die Atmosphäre von damals wieder spürbar, das beglückende Gefühl, die Unbeschwertheit, die Offenheit und Zuversicht, oft kommen sogar die alten Körpergefühle wieder, das Kuscheln, Schaudern und Kribbeln und der Sessel, das Sofa oder das Bett in dem einem die Märchen vorgelesen wurden. All das taucht erneut ganz deutlich spürbar aus dem im Hirn abgespeicherten Erfahrungsschatz der frühen Kindheit auf. Weil sie solche frühen, emotional positiv bewerteten Erinnerungen bei fast allen Menschen wachrufen, machen diese Märchen auch Erwachsene auf eine geheimnisvolle Weise wieder stark. Die innere Unruhe, die Sorgen und Ängste verschwinden. Wir fühlen uns wieder besser, gestärkter und zuversichtlicher, mutiger und befreiter, gleichzeitig gefestigter und verwurzelter. Märchen sind Balsam für die Seele, sie machen uns wieder lebendig.
Wir spüren diesen Zustand innerer Berührung immer dann, wenn etwas an unserem kognitiv aufrechterhaltenen Ich-Konstrukt und unseren rationalen Erklärungsmustern vorbei direkt bis zu jenen Bereichen im Gehirn vordringt, in denen unsere beiden seelischen Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Geborgenheit einerseits und nach Autonomie und Freiheit andererseits verankert sind. Dann kommen wir wieder mit uns selbst in Berührung. Von den meisten wird das wie das Wiederfinden von etwas empfunden, das sie längst verloren hatten. Gefühle wie Dankbarkeit, Verbundenheit, Ganzheitlichkeit, Demut, Leichtigkeit und tief empfundene innere Freude signalisieren, dass die betreffende Person dabei ist, sich wieder mit ihren lebendigen, wahrhaftigen Bedürfnissen zu verbinden. Oft fließen dann sogar Tränen vor lauter Glück und Erleichterung.
Versuchen Sie es einmal, lesen sie einfach das eine oder andere Märchen dasFrau Wolle in diesem Buch für Sie aufgeschrieben hat. Es ist so schwer zu erklären, aber Sie werden dann selbst spüren, was ich meine und wo der goldene Schlüssel für unsere wahrhaftige Menschwerdung verborgen ist: in unserer Berührbarkeit.
Gerald Hüther Weissenbach, im Mai 2022 .
Das neue Buch entsteht gerade – weitere Informationen finden Sie hier.